Zweite Operation

 

 

Wir zogen also wieder ins St. Gertrauden Krankenhaus ein und die üblichen Voruntersuchungen wurden gemacht. Bevor es runter in den Operationssaal ging, saß ich noch mit Anni auf Ihrem Bett und ich sagte zu Ihr " Anni komm mir ja heil wieder raus". Anni schaute mich von der Seite an, lächelte und sagte " Papa, das kann ich dir doch nicht versprechen", ich antwortete " Ja Spatzi ich weiß, ich hab dich ganz doll lieb". Papa, das kann ich dir doch nicht versprechen, waren die letzten Worte die Anni zu mir sagte, denn ab hier hat Anni nie wieder gesprochen. Wir begleiteten Anni noch bis vor den OP-Saal, drückten und küssten sie, sagten Ihr, dass wir sie lieb haben und vor der Tür warten. Dann ging es auch los und Anni wurde in den Vorbereitungsraum geschoben. Vor dieser Operation hatten wir besonders große Angst. Wieder so ein großer Eingriff an dieser noch dazu schwer zugänglichen und gefährlichen Stelle, der Thalamus ist nunmal der Knoten der Datenautobahn unser Leitzentrale., hier läuft alles zusammen. Aber da Professor Vogel meinte, dass in der Regel die Rezidivoperation, zumal er den gleichen Weg nimmt, besser verkraftet wird, stimmten wir der Operation zu, denn im Endeffekt gab es nur noch diese beiden Optionen. Entweder operieren oder sterben. Aber wir hatten uns für Weiterkämpfen entschieden. Aus heutiger Sicht hätte unsere Wahl höchstwahrscheinlich anders ausgesehen, aber zum damaligen Zeitpunkt wussten wir nicht, was noch alles auf Anni und uns zu kommen sollte, denn in die Zukunft kann leider niemand schauen.

Als wir wieder zu Anni konnten, lag sie bereits auf der Intensivstation. Wir sahen gleich, daß etwas nicht stimmte. Sie war nicht wie sonst von den Geräten abgekoppelt. In Ihrem Mund steckte noch der Beatmungsschlauch und wach war Anni auch nicht. Sie zeigte keine Reaktion. Die Ärztin der Intensivstation sagte uns, daß Anni trotz Ende der Anästhesie nicht wieder aufgewacht sei. Die Beatmungsmaschine muß weiter arbeiten. Anni atme zwar, aber sehr schwach und die Maschine unterstützt ihre Atmung nur. Ihr Körper allerdings zeigte keinerlei Reaktionen. Die Pupillen war weit geöffnet und reagierten nicht auf Lichtreflexe. Ansonsten war nicht mehr an Informationen rauszuholen und alle hielten sich sehr bedeckt. Gegen Mitternacht erschien dann Professor Vogel, um nach Anni zu sehen. Er meinte die Operation sei gut verlaufen und er konnte alles sichtbare Tumorgewebe entfernen. Anni braucht jetzt noch eine Weile um wieder zu sich zu kommen, denn es war ein großer Eingriff, aber das wird schon, wir müssen warten. Wir erfuhren nun auch, warum sich auf der Intensivstation alle so bedeckt und wortkark verhielten, denn die Ärzte und Schwestern gingen davon aus, daß Anni Hirntod sei, weil ihre Pupillen so weit geöffnet waren und keine Reaktion zeigten. Doch das war eine Fehleinschätzung. Professor Vogel erklärte ihnen, daß er auch am 3. Hirnnerv operieren musste und dieser Nerv nun "beleidigt" sei. Dieser Hirnnerv ist u.a. für die Pupillenreaktion aber auch für den Augenlidschlag zuständig. Also erstmal Entwarnung zumindest in dieser Sache; kein Hirntod und alle atmeten auf. Die verantwortliche Ärztin tat sich allerdings noch ein wenig schwer damit, Anni von der Beatmungsmaschine zu lösen und machte dies von ihrer Ansprechbarkeit abhängig. Ich weiß heute nicht mehr, ob es noch in der Nacht oder am nächsten Tag war. Nach viel Zusprechen schaffte es Anni, einen Daumen für ok zu heben. Uns fiel ein großer Stein vom Herzen, Anni konnte uns hören. Also wurde das Beatmungsgerät entfernt und Anni atmete selbstständig. Die nächsten fünf Tage musste Anni noch auf der Intensivstation bleiben. Ihr körperlicher Zustand musste sich stabilisieren. Ernährt wurde sie über eine Nasensonde, die bis in den Magen reicht. Darüber bekam sie Ihre Flüssignahrung. Wir konnten die ganze Zeit bei Ihr sein und nachts schlief meine Frau bei Anni auf einem Klappbett.

Am 14.06.2010 wurde ein postoperatives Kontroll MRT gemacht. Nach Auswertung der Bilder erklärte uns Professor Vogel, daß er den Tumor vollständig entfernen konnte. Der kleine weiße Rest unten rechts sei seiner Meinung nach nur noch Narbengewebe. Wir waren glüclich über dieses Ergebnis und hofften nun, daß Anni sich in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten wieder erholen würde.

 Vor dieser zweiten Operation habe ich weiter viel gelesen, mit Ärtzten gesprochen und telefoniert. Denn uns war klar, auch nach dieser Operation musste die Therapie weiter gehen. Dabei stieß ich auf die dendritische Zelltherapie, durchgeführt von einem Professor van Gool in Belgien/ Leuven. Bestrahlt wurde Anni bereits und Temodal hatte nicht gewirkt. Es musste noch was anderes geben um unserer Tochter zu helfen. Diese dendritische Zelltherapie hörte sich verheißungsvoll an und gab neue Hoffnung. Ich sprach auch die Ärzte der Kinderonkologie Buch darauf an, aber wie zu erwarten, bekam ich nur ein Schulterzucken. Die Antwort war; Ja das haben wir vor Jahren mal bei einem Kind gemacht, aber wie das genau war, können wir auch nicht sagen. Man merkte regelrecht, daß es ihnen zu viel war, sich auch noch um so etwas zu kümmern. Ich bin Laie und "nur" der Vater. Wie macht man das genau? Was muss überhaupt gemacht werden? Wer setzt sich mit Belgien in Verbindung? Wie wird der Tumor dorthin gebracht? Es gab so viele Fragen, womit wir allein gelassen wurden. Nach viel Hin und Her erfuhr ich dann, daß es in Deutschland eine übergeordnete Organisation gibt. Dort werden Kinder, die in Frage kommen, vorgeschlagen. Vorher müssen natürlich die MRT Bilder wieder zur Auswertung zu einer anderen Ärztin geschickt werden, die die Bilder wieder neu bewertet und entscheidet, ob das Kind dann dem Professor van Gool in Belgien überhaupt vorgeschlagen wird. Auf diese Antwort warten wir übrigens heute noch. Ich habe dann selbst mit dieser Organisation, der genaue Name fällt mir nicht mehr ein, telefoniert. Eine nette Dame erklärte mir dann am Telefon alles sehr genau, jedoch seien sie nur für den theoretischen Teil zuständig, zum Beispiel in Bezug auf Bezahlung der Therapie. Alles andere muß durch die behandelnde Onkologie geregelt werden. Diese nette Dame telefonierte auch mit der zuständigen Oberärztin um Ihr den genauen Ablauf zu erklären. Die Oberärztin allerdings war da anderer Ansicht und schob die Verantwortung plötzlich auf Professor Vogel, da Anni ja gerade dort sei und die Operation bevorsteht.

Wir konnten es nicht fassen, hier ging es um Leben oder Tod eines Kindes und diese kalte und herzlose Oberärztin ist, aus welchen Gründen auch immer, war nicht in der Lage, bzw. wollte offensichtlich nicht helfen. Ich hatte dieses ganze Theater satt und kontaktierte selbst Professor van Gool in Belgien. Sein Assistent schrieb mir schnell per Mail zurück und teilte mir mit, was notwendig sei. Zunächst benötigten sie eine Gewebeprobe des Tumors in der Größe von 1 x 1 cm., in speziel dafür vorgesehene Röhrchen um das Tumorgewebe im Vorfeld aufzuarbeiten. Kosten für die Therapie würden nicht entstehen, da unsere Tochter im Rahmen der belgischen Studie behandelt werden würde. Und das war für die Vorbereitung auch schon alles. Ich bat die Onkologie in Buch um diese Rörchen für das zu entnehmende Tumorgewebe und um einen geeigneten Behälter sowie Trockeneis für den Transport. Die Antwort war natürlich; sowas haben wir alles nicht, das müssen sie sich schon selbst besorgen. Im St. Getrauden  Krankenhaus gab es diese Dinge auch nicht, da das Krankenhaus nichts verschickt. In den Neurochirurgie Buch bekam ich dann endlich die benötigten Röhrchen.

Nach 5 Tagen war Anni wieder stabil genug um auf die normale Station verlegt zu werden, aber zeigte weiterhin keine Reaktion. Sie konnte ab und zu den Daumen bewegen, ansonsten wirkte sie als wenn sie dauerhaft schlief, einfach keinerlei Bewegung. Für den nächsten Morgen bestellte ich dann bei einer Party- und Cateringfirma einen passenden Styroporbehälter gefüllt mit Trockeneis, Übergabe auf der Straße vor dem Krankenhaus. In der Pathologie bekam ich dann die Tumorprobe. Ich fuhr mit meinem Bruder Michel morgens 09.00 Uhr von Berlin los, über die Niederlande nach Belgien/ Leuven. Als wir am späten Nachmittag ankamen, wurden wir von zwei netten Assistenzärzten empfangen und übergaben Anni's Tumor. Vollkommen fertig waren wir um 03.00 Uhr wieder zu Hause. Da wir unsere Hoffnung in diese Anschlußtherapie mit dendritischen Zellen setzten, waren wir froh, diesen ersten Schritt getan zu haben, obwohl uns keiner helfen wollte. Wann wir allerdings mit dieser Therapie beginnen könnten, stand auf einem ganz anderen Blatt, denn eine Voraussetzung für diese Behandlung ist ein Karnorwskyindex von 70 auf einer Skala von 100. Dieser Index beschreibt den allgemeinen körperlichen und geistigen Zustand des Patienten, von dem wir leider noch weit entfernt waren. Wir sollten ihn auch nicht mehr erreichen, aber das wussten wir damals noch nicht. Also begannen wir mit einer anderen anschließenden Chemotherapie, Temodal hatte nicht gewirkt, also was blieb noch. Professor Vogel behandelt seine Patienten seit  Jahren auch mit anderen Medikamenten, zum Beispiel mit Laif 600 einem Johanneskrautpräparat oder Thalidomid ehemals Contergan. Was Contergan vor 30 Jahren angerichtet hat wird sicherlich jeder wissen. Trotzdem entschieden wir uns für die Weiterbehandlung mit Thalidomid, denn es ging in erster Linie darum, Anni's Leben zu retten und eine Schwangerschaft kam sowieso nicht in Betracht. Die Ergebnisse von Thalidomid sahen vielversprechend aus.

Aber wir standen vor dem nächsten Problem. Wie bekommen wir dieses Medikament. Professor Vogel versorgte uns zuerst mit seinen letzten Reserven anderer Patienten, denn er selbst kann keine Rezepte ausstellen. Mit Buch waren wir fertig und wollten mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben. Wir mussten "nur" jemanden finden, der uns das Rezept ausschreibt. Ich kontaktierte auch die Kinderonkologie Charite Virchow Klinikum, aber dort hieß es nur sinngemäß; nee sie wollten ja auch damals nicht zu uns kommen und wir sind keine einfachen Rezeptausschreiber. Ich fragte in verschiedenen onkologischen Praxen an und schilderte auch dort unsere Situation, daß wir nur das Medikament brauchen und keine andere Behandlung. Mir wurde dann aber mehrmals gesagt, wir nehmen nur Patienten ab 18 Jahre, Kinder müssen in klinischen Tumorzentren behandelt werden. Die Sozialarbeiterin des St. Gertrauden Krankenhaus empfahl uns dann eine Onkologin in Berlin/ Wedding. Ich fuhr zu Ihr in die Praxis mit all unseren Unterlagen und schilderte unsere Situation. Nach Durchsicht der Akten und einem langen Gespräch stimmte die Onkologin dann zu, Anni als Patientin aufzunehmen. Ich muss hier nochmal sagen, eine sehr nette, kompetente und herzliche Frau, die uns sehr geholfen hat.

Die nächsten Tage verliefen schleppend, Anni's Zustand wollte sich nicht bessern, aber Professor Vogel meinte; das wird schon, wir brauchen Geduld. Eine Woche später fing Anni an, ihre Augenlider leicht zu öffnen. Ihre Pupillen begannen auch wieder leicht zu reagieren. Mittlerweile merkten wir, wann Anni wach war und wann sie schlief. Der Zustand indem sie sich befand, nannte man apallisches Durchgangssyndrom, wobei dies auch nur ein Oberbgriff ist, denn eigentlich gibt es dafür keine richtige Beschreibung. Wir probierten ob Anni essen konnte und siehe da, zerquetschte Bananen und Babynahrung konnte Anni bewußt schlucken, auch angedickte Fruchtsäfte nahm sie oral zu sich. Das trainierten wir soweit, daß ihr die Nasensonde gezogen werden konnte. Ein ganz großer Schritt für unsere Kleine. Es gab keinen Grund mehr, länger im Krankenhaus zu bleiben und so bemühten wir uns um eine Anschlußreha. Uns war klar, daß es dieses Mal viel länger dauern würde und suchten eine Reha in der Nähe von unserem Zuhause. Dabei fiel unsere Wahl auf den Medical Park in Berlin Tegel. Eigentlich eine Rehaklinik nur für Erwachsene. Aber da wir im Grunde keine ärztliche Versorgung sondern bestmögliche Therapien brauchten, entschieden wir uns für den Medical Park. Die Einrichtung war super modern, große, sehr gut ausgestattete Zimmer mit einem Topangebot an Therapien und 15 Minuten von zu Hause entfernt.

Anni war stabil, die OP Wunde verheilt und im Kopf war kein Tumor mehr zu sehen. Die anschließende Chemotherapie stand fest. Der nächste große Schritt stand an, die Rehabilitation. So ging es dann am 14.07.2010 in den Medical Park Berlin/ Tegel.

 

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